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9 Jugendliche gegen die Bundesregierung: Die Klimaklage und der Paradigmenwechsel

Last updated on 27. Januar 2022

Sophie Backsen ist 21 Jahre alt und studiert in Kiel Agrarwissenschaft. Aufgewachsen ist Sophie auf einem landwirtschaftlichen Betrieb auf Pellworm, einer Nordseeinsel. Sie überlegt, später einmal den Bio-Hof ihrer Eltern zu übernehmen. Wenn Sophie aus dem Fenster schaut, sieht sie plattes Land und einen Deich, der acht Meter hoch ist. Dieser grüne Wall ist eines Tages möglicherweise ihre Lebensversicherung. Denn Pellworm ist aktiv vom Klimawandel betroffen.[1] [2]

Im Jahre 2020 hat Sophie gemeinsam mit acht weiteren Jugendlichen die Bundesregierung verklagt, weil sie ihre Zukunft bedroht sieht. 

Deswegen müssen wir darüber sprechen

Die Nordsee-Insel Pellworm liegt zum großen Teil einen Meter unter Normalnull. Bei einem Deichbruch, ausgelöst durch zunehmende Sturmfluten, könnte die Insel volllaufen wie eine Badewanne. Die acht Meter hohe Wand kann nicht beliebig vergrößert werden. Gemeinsam mit ihren drei Brüdern (zwischen 16 und 21 Jahre alt), zwei Landwirten aus dem Alten Land, Klimaaktivistin Luisa Neubauer sowie zwei weiteren jungen Leuten hat sie deshalb eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht. Diese wird unterstützt von Greenpeace und weiteren Organisationen. Ziel ist eine Verschärfung des Klimaschutzgesetzes.

Tipp: Du möchtest die ganze Klageschrift lesen? Diese findest du HIER
Definition Klimaklage: Bei der sog. Klimaklage (im angloamerikanischen Raum auch Climate Change Litigation genannt) handelt es sich um ein Gerichtsverfahren, das meist Bürgerinnen und Bürgern, sowie Nichtregierungsorganisationen betrieben wird. Streitgegenstand ist hierbei grundsätzlich immer der Klimawandel sowie Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel.

Was ist das Klimaschutzgesetz und warum soll es verschärft werden?

Die Jugendlichen kritisieren, dass die Bundesregierung mit dem 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetz weiterhin nicht genug gegen die Klimakrise unternimmt, also ihrem im Grundgesetz verankerten Schutzauftrag nicht nachkommt.[1]  Das deutsche Klimaschutzgesetz ignoriert, dass der Ausstoß von Treibhausgasen so schnell wie möglich sinken muss, wenn der Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad  begrenzt werden soll. Das wurde im Jahr 2015 völkerrechtlich verbindlich in Paris vereinbart. Zum einen reicht dafür die von der Bundesregierung angestrebte Verringerung der Treibhausgase um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 nicht aus. Zum anderen kann mit den bisher verabschiedeten Maßnahmen im Klimaschutzgesetz nicht einmal dieses ohnehin zu schwache Ziel überhaupt erreicht werden. 

Hierzu beauftragte die For-Future Bewegung im Jahre 2021 eine Studie. Hierbei kam das Wuppertal Institut zu dem Ergebnis,

Das Einhalten der 1,5-°C-Grenzmarke ist nur dann möglich, wenn Deutschland bis etwa 2035 CO2-neutral wird und auch nur dann, wenn die Emissionen schon in den unmittelbar vor uns liegenden Jahren extrem sinken.

Aussage einer Studie aus dem Jahre 2021 des Wuppertal Instituts

Das Erreichen von CO2-Neutralität wäre “bis zum Jahr 2035 aus technischer und ökonomischer Sicht zwar extrem anspruchsvoll […], grundsätzlich aber möglich”, so die Studie.

Was sagt das Bundesverfassungsgericht zu der „Klimaklage“ und was passiert jetzt?

Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen aber in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. [2]

Klimaschutz ist also ein Grundrecht! Bereits 1994 wurde mit dem Artikel 20a GG in einem Nebensatz klargestellt, dass die natürlichen Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen geschützt werden müssen. Jedoch fordert das Gericht nun konkret vom Staat, sich an die Konzepte des CO2-Budgets zu halten, auch für „nach 2030“ jährlich konkrete Maßnahmen und Ziele im Gesetz zu formulieren, dabei das Pariser Klimaabkommen zu gewährleisten und somit nicht auf Kosten zukünftiger Generationen weiter zu wirtschaften. Die Karlsruher Richter:innen machen den wissenschaftlichen Kenntnisstand zur Grundlage ihres Urteils und zitieren: Notwendige Grundlage aller politischen Entscheidungen müsse Deutschlands maximales Treibhausgasbudget sein.[3]

Alle Schulden, die jetzt nicht für das Klima aufgenommen werden, sind Schulden, die unsere und die kommenden Generationen in Form von Schadensbegrenzung, Klimakrisenbekämpfung oder -anpassung werden tragen müssen.

Mit einer Änderung des Klimaschutzgesetzes (KSG) hat die Bundesregierung im Rekordtempo noch im Juni 2021 auf die Klage reagiert und eine Gesetzesnovelle vorgelegt, die inzwischen vom Bundestag verabschiedet wurde und den Bundesrat passiert hat. Demnach sollen die CO2-Emissionen bis 2030 um 65 % (bislang 55 %) und bis 2040 um 88 % gesenkt werden. Klimaneutralität soll statt bisher bis 2050 nun schon bis zum Jahr 2045 erreicht werden.[4]

Wer hat da wen verklagt?

Insgesamt haben neun Jugendliche die Bundesregierung verklagt: 

  • Luisa Neubauer, Mitbegründerin der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung,
  • Lueke Recktenwald von der Nordseeinsel Langeoog, der auch Kläger im People’s Climate Case gegen die Europäische Union ist,
  • sowie die sieben Jugendlichen und jungen Erwachsenen der drei Bauernfamilien, die zusammen mit Greenpeace bereits 2018/2019 die Bundesregierung auf Einhaltung des 2020-Klimaziels verklagt hatten: Hannes, Sophie, Jakob und Paul Backsen, Johannes, Franziska Blohm und Lukas Lütke Schwienhorst.

Dies sind Jugendliche und junge Erwachsene, die zum Teil selbst bzw. deren Familien in Deutschland ökologische Landwirtschaft und nachhaltigen Tourismus betreiben und zwar auf der Nordseeinsel Pellworm, im Alten Land an der Elbe nahe Stade und in Brandenburg, sowie auf der Insel Langeoog. Zwei der Jugendlichen leben in Hamburg und Göttingen und studieren Geografie.

Die Beschwerdeführer:innen, wie sie im Juristendeutsch genannt werden, sind zwischen 15 und 32 Jahre alt, und werden damit voraussichtlich allesamt die prognostizierten Auswirkungen des Klimawandels bis zum Jahrhundertwechsel erleben. Sie sind bereits heute von den spürbaren Auswirkungen des Klimawandels in Deutschland betroffen (etwa Extremwetterlagen, Hitzewellen), können sich aber allein durch ihre demokratischen Rechte und insbesondere Wahlen nicht schützen.[5]

War das die erste Klimaklage und was bedeutet das?

Nein. Bereits 2018 hatten drei Bauernfamilien, die bereits jetzt schon von den Folgen der Klimakrise betroffen sind, gemeinsam mit Greenpeace eine Klage gegen die Bundesregierung beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht.[6] Das Gericht wies die Klage zwar in erster Instanz ab, stellte aber klar, dass Klagen auf mehr Klimaschutz grundsätzlich zulässig sein können und dass sich Klimapolitik an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientieren muss.

Aktuell gehen Klimaaktivisten in Bayern, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen unter Führung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen diese Bundesländer nun ebenfalls vor dem BVerfG vor. Sie klagen auf Einführung konkreter gesetzlicher Regelungen zur Erreichung der Klimaschutzziele in den jeweiligen Bundesländern und fordern:[7]

  • gesetzliche Konkretisierung der zu ergreifenden Maßnahmen auch in den Ländern,
  • eine Benennung der Zeiträume, in denen diese Maßnahmen zu ergreifen sind sowie
  • definierte Zeiträume, in denen bestimmte Klimaziele erreicht werden müssen.

Wird es zu einer Klagewelle auch gegenüber der Industrie kommen?

Wenige Tage vor Beginn der Internationalen Automobilausstellung (IAA), einer der wichtigsten Automobilmessen der Welt, kündigten Anfang September 2021 die Umweltorganisationen Greenpeace und Deutsche Umwelthilfe (DUH) Klagen gegen die deutsche Autoindustrie an.[8] Und das Bemerkenswerte auch dieses Mal ist: Expert:innen räumen Ihnen Gewinnchancen ein.

Ab Januar 2022 hat sich das Bundesverfassungsgericht dann erneut mit einer Klimaklage beschäftigt: Neun jungen Klägern geht auch die Verschärfung des Klimaschutzgesetzes der Bundesregierung aus dem Jahre 2021 nicht weit genug. Auch sie reichten mit der Deutschen Umwelthilfe Klage ein.

Und JETZT?

Wenn wir sagen können, dass hier der Klimawandel stattfindet und wir dann merken, dass ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Kommune in einer nicht unerheblichen Art und Weise dazu beigetragen – wo soll dann die Kausalkette unterbrochen sein? Warum soll es da keine Verantwortlichkeit geben?

Coesfeld for Future

Die Ausreden sind nun vorbei! Dies ist ein Paradigmenwechsel!

Dies gilt auch auf kommunaler Ebene. Ein „Weiter so“ wird nun auch im rechtlichen Sinne nicht mehr lange möglich sein. Allerdings bleibt die Frage, wie lange jede Kommune sich noch das Recht herausnimmt, klimaschädliche Entscheidungen zu treffen, bevor jegliche Entscheidungen mit einer Klimabilanz abgewogen werden.

Auch die Stadt Coesfeld kann aktuell nicht mitteilen, wie viel CO2 sie mit ihren Projekten einspart oder wie groß der Fußabdruck ist. Die Zahl aus dem Klimaschutzkonzept scheint vielmehr gewürfelt als wissenschaftlich fundiert errechnet worden zu sein. Somit bleibt es aktuell bei „ein bisschen Klimaschutz“, denn keine Maßnahme ist wirklich messbar.Gleichzeitig tut sich der Stadtrat in manchen Entscheidungen sehr schwer, dass Thema Klimaschutz mit in die Waagschale der Entscheidungsfindung zu legen.

Aber auch wir als Gesellschaft werden uns notgedrungen verändern müssen! Eine Kurzstreckenfahrt unter 5 km mal eben zum Brötchen holen und das schnell mit dem Auto? Das ist nicht der richtige Weg! Ein Wochenend Kurztrip mit dem Flieger mit Freunden nach Mallorca zum Feiern? Nicht mehr zeitgemäß im Jahre 2021. Denn auch wir müssen auf unseren ökologischen Fußabdruck aufpassen.

Wenn wir es dann geschafft haben, unseren inneren Schweinehund zu besiegen und unser Mind-Set zu verändert, dann kann hier durchaus etwas Großartiges entstehen:

„Man nähert sich dem Klima-Thema und zuerst wird die Angstfahne herausgeholt, auf der steht: Verbot, Verzicht, Jobverlust. Und praktisch nie wird eine Debatte begonnen mit der Chancenfahne, auf der steht: Neue Technologien, Zukunftsbranchen, eine lebenswertere und gerechtere Welt für alle Generationen“

Frank Schätzing in WDR 5


Quellenangaben:

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