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Das systemische Konsensieren: eine demokratische Ergänzung zur Abstimmung

Last updated on 1. Oktober 2022

„In welcher Kultur wir leben hängt davon ab, wie wir Entscheidungen treffen.“

Deswegen müssen wir darüber sprechen

Bei unserem Abstimmungssystem gibt es immer Gewinner und Verlierer. Im Vorfeld der Abstimmung wird deshalb oft hart gegeneinander gekämpft, häufig kommt es zum Streit. Das bereitet den Boden für Lobbyisten und Populismus.

Kommt es z.B. zu einer Abstimmung über 4 Ideen, kann eine Idee mit 30 % der Stimmen schon die Mehrheit haben – 70 % der Menschen haben dann verloren und müssen sich fügen, auch wenn sie vielleicht gegen diese Idee wirklich viele Widerstände und Einwände haben. Klingt das für dich demokratisch? Ist das ein System, was uns weiterbringt? Was das Beste für uns alle herausholt? Wird es den komplexen Sachlagen gerecht, in denen wir oft Entscheidungen finden müssen?

Wir stellen euch in diesem Artikel eine Alternative vor: Das systemische Konsensieren.

Die Folgen herkömmlicher Abstimmungen

„Wenn man nur durch Mehrheiten wirksam werden kann, muss man sich einordnen: auf die eigene Individualität weitgehend verzichten.“[2]

Möchte eine Gruppe ihre Ideen durchsetzen, sind die Bedenken des Einzelnen eher ein hinderliches Ärgernis. Macht benötigt Zustimmung, um die wird gekämpft. Menschen, die überstimmt wurden, fühlen sich zu recht oftmals nicht gehört, nicht gesehen, verlieren die Motivation mitzumachen – „es bringt ja eh nichts“. Das erzeugt oft verbitterte, unzufriedene Gegner:innen, die innerlich schon gekündigt haben.

Was wäre stattdessen wünschenswert?

Gehen wir von uns selbst aus: Wir wollen mit unseren Argumenten und Einwänden gehört werden. Wir wollen, dass sie in den Entscheidungsprozess einfließen und ernst genommen werden, oder?

Geschieht das, ist unsere Bereitschaft gleich viel größer, auch die Meinungen der anderen zu hören und ernst zu nehmen. Wir haben das Gemeinwohl im Blick.

Welche Lösung bietet das systemische Konsensieren?

„Konsensieren ist der Weg des größten gemeinsamen Nenners.“[3]

Ein besonderes Merkmal des systemischen Konsensierens ist die Haltung, Widerstände und Bedenken zu begrüßen, als Hinweise zur Erweiterung des Lösungsraumes. Sie zeigen, dass noch nicht alles bedacht wurde und werden als kreative Kraft genutzt. Deshalb wird in einem Entscheidungsprozess nach den persönlichen Widerständen aller Beteiligten gefragt, statt nach Pro-Argumenten.

Wie werden die Widerstände konkret gemessen?

Unser Widerstand wird in Widerstandspunkten gemessen von 0= kein Widerstand bis 10= maximaler Widerstand. Jede:r Beteiligte gibt für jede Alternative separat die Höhe des eigenen Widerstandes an. Dabei ist wichtig: Es wird nicht verglichen und kein persönliches Ranking erfragt. Dadurch, dass jede:r jede Lösung bewertet, sind wir immer Teil der gemeinsamen Entscheidung.

Warum Widerstände und nicht die Pro-Argumente?

  • Es fällt uns häufig wesentlich leichter zu benennen, was wir für Bedenken haben.
  • Eine verdeckte Unzufriedenheit oder ein unbenannter Widerstand können zum Konflikt führen oder die Umsetzung der beschlossenen Lösung sabotieren
  • und hinter jedem Widerstand steht ein unbefriedigtes Bedürfnis. Wenn wir das Bedürfnis erkennen, können wir viel mehr Strategien finden, um es zu befriedigen. Das weitet den Lösungsraum.

Wer hat das Prinzip des systemischen Konsensierens entwickelt?

Es wurde von den beiden Österreichern Dr. Erich Visotschnig und Dipl.-Ing. Siegried Schrotta in den 80er Jahren entwickelt und in der Folge von vielen Menschen weiterentwickelt, erweitert und verbessert. Es gibt zahlreiche Methoden, das Konsensieren anzuwenden. Wir zeigen hier nur einen kleinen ersten Ausschnitt, um auf das Prinzip aufmerksam zu machen.

Let`s get practical: Ein Beispiel für systemisches Konsensieren

Die klassische Situation in einer Familie: 4 Personen wollen entscheiden, was gekocht wird. So kann das aussehen: Die verschiedenen Essen werden aufgelistet und alle Familienmitglieder schreiben unabhängig voneinander auf, wie viel Widerstand sie gegen welche Speise haben. Das wird notiert und dann addiert. Das Essen mit dem geringsten Widerstand wird gekocht.

Jede:r hat seinen Widerstand pro Essen eingegeben

Kann man die Entscheidung nicht leicht manipulieren?

Nein. Wollen die Kinder in dem Beispiel z.B. die Entscheidung manipulieren, geben sie nur ihrem eigenen Lieblingsessen Null Widerstandspunkte und allen anderen 10 Widerstandspunkte (WiST). Dann kann es jedoch sein, dass sie das Gegenteil erreichen. Denn wer so taktiert, überlässt die Entscheidung eventuell den anderen, wie an diesem Beispiel sichtbar wird:

 Sohn und Tochter taktieren – aber erfolglos

Wie läuft ein komplexerer SK-Prozess ab?

Tom Müller beschreibt in seinem Buch Magic Meetings Band 1[4], den Prozess am Beispiel eines Meetings so:

Es beginnt mit der kreativen Phase:

  1. Meinungen und Informationen reihum austauschen, möglichst nach fester Struktur, mit gleichem Redeanteil für alle
  2. Ideen sammeln, teilen und verstehen – es geht nicht um bewerten, sondern darum, sich ein gutes Bild von den Ideen und Argumenten der anderen zu machen
  3. Nachfragen, um eine gute Basis für die Bewertung zu haben – „Was muss ich noch wissen, ehe ich meine Bewertung abgebe?“
  4. Die Passivlösung benennen – „Es bleibt alles so wie es ist“ oder „Wir machen weiter wie bisher“

Alle Möglichkeiten werden aufgeschrieben, stehen allen visuell zur Verfügung. Es folgt die erste Bewertungsrunde: Hier werden Widerstandspunkte vergeben, auch für die Passivlösung.

Das Ergebnis dieser Bewertungsrunde ist ein Meinungsbild, mit dem weitergearbeitet werden kann. Der Prozess kann sich so in 2, 3 oder mehr Runden einer Lösung annähern, die einen geringstmöglichen Widerstand aller Beteiligten hat – einen Konsens.

Was ist der Sinn der ‚Passivlösung‘ beim systemischen Konsensieren?

Die Passivlösung wird in jeden größeren Prozess mit eingebracht als Alternative. Sie sagt etwas wie: „Wir machen weiter wie bisher“ oder „keine Veränderung“ und sie signalisiert die Grenze des Zumutbaren.

Es ist nicht sinnvoll, über Lösungen zu diskutieren, die noch mehr Widerstandspunkte haben als die Passivlösung  – die Zeit und Kraft kann gespart werden!

Online-Tools für Gruppenentscheide

Es gibt auch die Möglichkeit, den Entscheidungsprozess online zu machen, z.B. auf der österreichischen Seite der Erfinder des Konsensierens: www.acceptify.at/de/start. Für den privaten Einsatz ist die Nutzung kostenlos.

Oder mit der App Concide:  https://concide.de/de/ bei der jedoch nur die Demoversion kostenlos ist. Gerade in Teams oder großen Gruppen ist die Onlineversion eine große Hilfe.

Und jetzt?

Es gibt viele Varianten des systemischen Konsensierens für die verschiedenen Entscheidungssituationen – und für verschiedene Altersgruppen. Wenn du dich dafür  interessierst, lohnt sich der Blick in das Buch von Paulus, Schrotta und Visotschnig „Systemisches Konsensieren“ – da findest du zahlreiche Beispiele für Entscheidungsprozesse.

Es scheint vielleicht aufwendig – aber das Prinzip ist schnell verstanden und dann spart es jede Menge Zeit und vor allem: Konflikte! Probier es aus!  


Quellenangaben


Weitere spannenden Links zu diesem Thema:

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2 Kommentare

  1. Annette Tüshaus Annette Tüshaus

    Danke für diesen Beitrag,
    Ich finde ihn spannend!

    • Hallo Annette,
      danke für deinen Kommentar. Hilf uns gerne mit, ihn weiterzuverbreiten und somit diese Möglichkeit für mehr Menschen zugänglich zu machen :-).
      Viele Grüße Susanne

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