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(Wut-) Brief an mein ungeborenes Kind

Am 23.09.2022 sind weltweit in rund 270 Städten rund 280.000 Menschen auf die Straße gegangen, um ein Zeichen für mehr Klimaschutz zu setzen. Wir dürfen hier zwei Klimastreikreden aus Dülmen veröffentlichen. Danke an die Redner:innen für ihre Gedanken und die Freigabe, ihre Reden hier zu veröffentlichen.


Hallo du,

ich weiß nicht, ob dich dieser Brief je erreichen wird. Ob es dich überhaupt geben wird. Um ehrlich zu sein, ist das aktuell mehr als ungewiss. Heute, im Jahr 2022, bin ich als Frau langsam in einem Alter, in dem ich mir Gedanken darüber machen sollte, ob ich Kinder haben möchte.
Wenn ja, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Wie viele Kinder ich mir vorstellen kann. In meinem Freundeskreis häufen sich die Gespräche darüber. Die ersten sind schwanger. Die Nächsten bekommen Kinder. Doch es fällt mir schwer, wirklich darüber nachzudenken.

Zu unsicher erscheint mir gerade die Zukunft. Zu groß und beängstigend schwebt die hereinbrechende Klimakatastrophe über meinem Kopf – über unser aller Köpfen. Auch wenn manche Menschen die Krise einfach nicht sehen wollen – das ist für dich in der Zukunft sicher unvorstellbar.

Es ist, als würden sie einfach ihren Kopf in den Sand stecken. Alle anderen wissen sehr genau, um was es gerade geht: um den Erhalt einer Welt, in der es auch in 20, 30, 50 Jahren überhaupt noch eine Lebensgrundlage für uns und nachfolgende Generationen gibt. Deshalb komme ich gar nicht dazu, mich wirklich mit der Kinderfrage auseinanderzusetzen. Ich umkreise sie, ohne ihren Kern zu berühren. Es scheint mir einfach unvorstellbar, ein Kind in diese Welt zu setzen.

Darf ich dir, mein Kind, all das zumuten, was da auf uns zukommt?


Diese Sorge überdeckt alle anderen Überlegungen, die bei so einer Entscheidung eigentlich eine Rolle spielen sollten. Und diese Sorgen und Ängste wiederum machen mich wütend.

…Ich bin wütend, weil das politische Nichthandeln in den vergangenen Jahren so stark in meine ganz persönliche Entscheidung hineingrätscht.
…Ich bin wütend, weil wir längst wissen, wie wir hätten handeln können. Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen. Immer und immer wieder.

….Ich bin wütend, dass so viele Menschen die Mahnungen einfach ignorieren und ich mich in der Minderheit fühle unter denen, die die Krise noch abschwächen wollen.

Im April 2022, gab es eine weitere Warnung in Form eines 3.000 Seiten umfassenden Dokuments: dem sogenannten IPCC-Bericht. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, auch wenn sein Inhalt hoffentlich keine große Rolle mehr spielen wird, wenn du diesen Brief liest. Aktuell sollte er aber von Interesse sein. Er sollte Wellen schlagen und jeden Tag auf Seite 1 der großen Zeitungen stehen.

Warum? Nach 2 Jahren Pandemie ist unsere Gesellschaft psychisch ausgelaugt und seit einigen Monaten tobt mitten in Europa ein Krieg. Ach ja, und die deutsche Wirtschaft wächst auch »nur« noch um 0,8 %. Gründe dafür, Warnungen zu ignorieren, gab es schon immer. Irgendeine akute Krise ist bisher leider jedes Mal dazwischengekommen. Schließlich ist der IPCC- Bericht nicht der erste seiner Art. In den 80er-Jahren hatten sich Wissenschaftler:innen aus aller Welt zum ersten Mal getroffen, um zusammenzutragen, was über den Klimawandel bekannt war. Wie unfassbar lange das her ist, das war sogar noch vor meiner Geburt!


Und ich habe Menschen so satt, die heimlich denken: »Wenn die Klimakrise hier bei uns wirklich schlimm wird, lebe ich eh nicht mehr.«

Du merkst, Klima ist etwas, worüber ich nicht mehr nüchtern nachdenken kann. Denn es betrifft mich, dich, unsere Zukunft.

Als ob wir das nicht schon längst wüssten. Wieso mich dieser Bericht gerade so wütend macht? Lass mich ein paar der wichtigsten Punkte kurz zusammenfassen:

Die durchschnittlichen jährlichen Treibhausgasemissionen der vergangenen 10 Jahre sind heute die höchsten der gesamten Menschheitsgeschichte. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir das angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf weniger als 1,5 Grad Celsius zu beschränken, nicht einhalten können. Die Botschaft der Wissenschaftler:innen ist klar: Es braucht noch drastischere Reduktionen der Emissionen in allen Ländern und in allen Sektoren, als die Regierungen gerade geplant haben (von der Umsetzung ganz zu schweigen).

Was das Ganze besonders frustrierend macht: Es steht nichts wirklich Neues in dem Bericht. Wir wissen ganz genau, was zu tun ist. 3 Punkte sind besonders wichtig:

  1. Das Kohlezeitalter muss so schnell wie möglich enden.
  2. Bis 2030 muss 3–6-mal mehr in Klimaschutz investiert werden als bisher.
  3. Und: …Unsere Struktur müssen sich verändern. Wir müssen zum Beispiel die Städteplanung und die Lebensmittelproduktion neu denken.


Vielleicht fragst du dich, wieso ich dir überhaupt von all dem erzähle? Jede Zeit hat ihre Krisen und Herausforderungen. Es ist unsicher, ob ich mich in Anbetracht der Situation jemals dafür entscheiden kann, dich wirklich zu kriegen. Fraglich ist, ob es dich geben wird und ob du diesen Brief lesen wirst.
….

Das wird wohl auch davon abhängen, was in den nächsten Jahren alles passiert. Aktuell ist noch nicht alles verloren und es gibt zumindest Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Diese Hoffnung möchte ich nicht aufgeben.

…Sie steigt ein Stückchen mehr mit jeder Person, die ihren Kopf aus dem Sand zieht.
…Ein Stückchen mehr mit jeder Regierung, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse und nötigen Schritte nicht länger ignoriert.

…Ein Stückchen mehr, mit jeder Person, die heute vor mir stehen sehe, mit jeder Person, die heute wichtiger Teil der Fridays for Future Bewegung ist!

…Mir ist klar, ich will auf jeden Fall Teil der Lösung sein und nicht des Problems. Um mir, wenn ich dir in Zukunft von diesem Moment erzähle, nichts vorwerfen muss.

Es gibt immer eine Lösung – wir müssen sie nur umsetzen.

In Liebe,
deine Sophie


Diese Rede ist angelehnt an einen Artikel von Maria Stich (2022): Wut-Brief an mein ungeborenes Kind, url: https:// perspective-daily.de/article/2106-ein-wut-brief-an-mein-ungeborenes-kind/ probiere (Zugriff: 22.09.2022). Danke an Maria Stich, die mir aus dem Herzen gesprochen hat

Kleiner Hinweis: … = hier habe ich den Artikel gekürzt oder verändert.


Über die Rednerin:

Sophie Löbbering hat während ihres Studiums an der FH Münster sich ganz und gar dem Thema „Nachhaltigkeit“ im Dienstleistungs- und Ernährungssektor hingegeben. Aktuell arbeite sie als selbstständige Organisationsentwicklerin und Moderatorin und begleitet solche Unternehmen dabei, die sich als Motor sozial-ökologischer Transformation verstehen. Zusätzlich schenkt sie die Hälfte ihrer Zeit und Energie ihrem Herzensprojekt „Solawi Crowdsalat“ in Dülmen.

Sophies Meinung:

Wenn alle danach handeln würden – mit dem gemeinsamen Ziel ein gutes Leben für alle zu erreichen – dann wären wir an einem ganz anderen Punkt… vielleicht in einer egofreien, coolen, gesunden, gemeinwohlorientierten und lebenswerten Wert. Denn: „Wenn viele Menschen in vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, dann wird sich das Gesicht der Welt verändern.“

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