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Shifting Baseline – Wie sich unsere Sicht auf die Natur verändert 

Last updated on 12. Oktober 2023

Wie sieht eine gesunde und intakte Umwelt aus? Diese Frage wirst du wahrscheinlich anders beantworten als deine Eltern oder Großeltern. Denn wie eine „gesunde“ Umwelt aussieht, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Der Grund: Deine Eltern und Großeltern hatten einen anderen Ausgangspunkt, einen anderen Punkt 0. Und das liegt nicht nur daran, dass die Antwort auf diese Frage sehr unterschiedlich ausfallen kann, sondern auch daran, dass die Antwort sehr individuell ist. So wird auch die Natur und unsere Umwelt je nach Erfahrung als „normal“ bewertet. 

Deswegen müssen wir darüber sprechen 

In Coesfeld schneite es in den letzten 10 Jahren durchschnittlich an 17 Tagen im Jahr. Das sind etwa 5 Tage weniger als im Vergleichszeitraum 1961 bis 1990. In München kommen wir mit aktuell 42 Schneetagen sogar auf einen Verlust von 20 Tagen im Vergleichszeitraum. Der Klimawandel verändert die globalen Umweltbedingungen über Jahrzehnte hinweg, und jeder Mensch bewertet diese Veränderungen von einem anderen Ausgangspunkt aus. So kann es sein, dass Menschen, die zwischen 60 und 70 Jahre alt sind, Klimaveränderungen, z.B. anhaltende Hitze oder Schneefall, intensiver wahrnehmen als jüngere Menschen. 

Definition: Shifting Baseline ist ein Begriff aus der Umweltforschung, der eine Veränderung unserer Wahrnehmung beschreibt. Jede Generation definiert neu, was „normal“ oder „natürlich“ ist. 

Woher stammt dieses Phänomen? 

Der Biologe Daniel Pauly beschrieb das Phänomen erstmals im Zusammenhang mit Fischbeständen. Als Basislinie nahmen die Fischereiwissenschaftler:innen die Fischbestände, die sie zu Beginn ihrer Karriere kannten. So nahmen ältere Fischer aufgrund ihrer Erfahrung den Rückgang der Fischbestände deutlicher wahr als ihre jüngeren Kollegen. Daraus ergab sich die Hypothese, dass die Fischerei nicht in ihrem unberührten Zustand bewertet wurde. Der Ausgangspunkt war also entscheidend. Pauly berichtet, dass wir nicht in der Lage sind, den Rückgang von Tieren richtig wahrzunehmen: Wir konzentrieren uns zum Beispiel auf die großen Fische, die immer seltener werden, weil wir sie fangen. Mit der Zeit bleibt wenig Fisch übrig, und wir denken, das sei normal. Für jüngere Generationen verschiebt sich also der Bezugspunkt nach unten.  Dieses Phänomen lässt sich auf die Umwelt übertragen und führt zu einer sogenannten „Umweltamnesie“. (Pauly, 2012) 

Erstmals kam das Phänomen im Zusammenhang mit deutlich reduzierteren Fischbeständen auf.

Wenn sich die Basislinie verschiebt

Obwohl es schwierig ist, die Existenz des Shifting Baseline Syndroms (SBS) umfassend nachzuweisen, wird es oft als Schlüsselproblem im Naturschutz bezeichnet. Die Festlegung von Werten aufgrund persönlicher Erfahrungen führt implizit zu einer Verschiebung der Ausgangspunkte, der sogenannten Baselines. Die Folge sind veränderte biologische Bedingungen für Populationsgrößen oder Biodiversitätsverluste. (Papworth et al. 2009) 

Im Laufe unseres Lebens geht der Ozean kaputt, wie der Rückgang der durchschnittlichen Fischmenge beweist.“ Daniel Pauly, Meeresbiologe 

Daniel Pauly, Meeresbiologe

Was bedeutet Umweltamnesie? 

Kinder geraten nicht in Sorge über das Fehlen von Schmetterlingen, da sie einen anderen Ausgangspunkt in ihren Umwelterfahrungen haben. Dies ist ein gutes Beispiel für das Shifting Baseline Syndrom. Denn in Texten aus dem 19. Jahrhundert wird beschrieben, dass bei einer Wanderung über Wiesen bei jedem einzelnen Schritt Schmetterlinge aufgeschreckt wurden – heute empfinden viele Menschen eine Wiese mit mehr als 10 Schmetterlingen als relativ naturnah.  (Meichßner, 2021) 

Welche Formen des Shifting Baseline gibt es?

Wissenschaftler:innen unterscheiden das Shifting Baseline Syndrom in zwei Formen:  

  • Generationsamnesie: Hier kommt es zu einem Wissensverlust, weil jüngere Generationen nicht über vergangene biologische Bedingungen informiert sind. Wenn die Weitergabe von Erfahrungen an zukünftige Generationen ausbleibt, werden vergangene Bedingungen vergessen und es kommt zu einer neuen Bewertung von Normalität.  
  • Persönliche Amnesie tritt auf, wenn individuelle Erfahrungen vergessen werden. Die eigene Wahrnehmung wird aktualisiert, so dass auch Menschen, die andere Bedingungen erlebt haben, glauben, dass die gegenwärtigen Bedingungen die gleichen sind wie früher. (Papworth et al. 2009) 
Hier sieht man eine vereinfachte Darstellung des Temperaturanstieges über Jahrzehnte hinweg

Verschiebung von Temperaturverläufe in NRW  

Ein französischer Meteorologe brachte die Folgen des Shifting Baseline auf den Punkt: In Paris der 60er bis 90er Jahre kam es selten vor, dass ein Sommer 35°C erreichte. Es passierte einmal in 5 Jahren und es war DER Tag der Hitzewelle. Seit 2009 kommt es jedes Jahr vor. Menschen in ihren Zwanzigern kennen praktisch nur diesen Zustand, für sie war es normaler Sommer. (François Jobard, Meteorologe) 

Auch in Nordrhein-Westfalen lassen sich diese Wahrnehmungsunterschiede über mehrere Generationen anhand der Temperaturentwicklung beobachten: 

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Und JETZT? 

Was kann die Gesellschaft tun? 

Um dem Shifting Baseline entgegenzuwirken, wurden in einer Studie vier Empfehlungen erarbeitet:  

  • Wiederherstellung der natürlichen Umwelt: z.B. Schaffung von Waldflächen und Naturwiesen  
  • Monitoring und Datensammlung: Möglichst viele Daten über die Umwelt sammeln, um aus historischen Berichten Rückschlüsse auf den ursprünglichen Zustand der Umwelt ziehen zu können.  
  • Verringerung des Verlustes an Erfahrung: Es ist wichtig, so viele natürliche Lebensräume wie möglich wiederherzustellen.
  • Die Wiederherstellung einer gesunden Umwelt soll dazu führen, dass eine bunte und nicht eine grüne Wiese als natürlich empfunden wird.  Sensibilisierung der Öffentlichkeit: Die Wissensvermittlung muss weit über die Schule hinausgehen. (Papworth & Meichßner) 
Naturerfahrungen und die Rückkehr zu einer Verbindung zur Natur sind erste Schritte, die helfen.

Was kannst DU selbst tun? 

Wenn wir uns z.B. an Temperaturen gewöhnen, die nicht normal sind, kommen wir nicht dazu, einen unnormalen Zustand der Umwelt zu bewerten. Wir verfallen dann in Untätigkeit, weil wir gar nicht wissen, wie eine intakte Natur aussieht. Das bedeutet für dich:  

  • Viele Naturerfahrungen machen: Es ist wichtig, so viele Naturerfahrungen wie möglich zu machen. Zum einen, sich mit der Natur zu verbinden. Also viele sinnliche Erfahrungen mit der Natur machen, z.B. sich Zeit nehmen, um Bäume und Insekten zu beobachten. Zum anderen, sich Wissen anzueignen, z.B. die Pflanzen um sich herum zu kennen. 
  • Wertfreie Kommunikation: Auch unsere Sprache ist ein wichtiges Detail unserer Wahrnehmung. Wenn wir an einem heißen, sonnigen Tag von „schönem Wetter“ sprechen, obwohl es eigentlich regnen sollte, dann führt das zu einer wertenden, verzerrten Wahrnehmung. Wir müssen aufhören, Regen als etwas Schlechtes zu bezeichnen.   
  • Frage deine Eltern nach ihren Kindheitserfahrungen: Was du noch tun kannst, um dem Shifting Baseline entgegenzuwirken, ist, mit deinen Eltern oder auch Großeltern darüber zu sprechen, wie die Natur, die Temperaturen und das Wetter damals waren. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, weil wir dann mehr Anhaltspunkte dafür haben, welche Umweltbedingungen wir wieder anstreben sollten. (Valleé 2022) 

Literaturverzeichnis 

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